Unorthodox. Autobiografische Erzählung.
Deborah Feldman, btb Verlag 2017

Unorthodox

Befreiungsschlag

Diese "autobiografische Erzählung" liest sich über weite Strecken, als würde sie eigentlich am Anfang des vergangenen Jahrhunderts spielen, oder noch früher. Tatsächlich beginnt die Lebensgeschichte der jungen Frau, um die es hier geht, aber im Jahr 1986, also vor gut dreißig Jahren, und dass sich diese Geschichte so altertümlich anfühlt, so unmodern, so konservativ, oder eigentlich, um es auf den Punkt zu bringen, so reaktionär, das liegt daran, dass Deborah Feldman in eine Gemeinde orthodoxer Juden hineingeboren wurde - chassidischer Juden, die sich besonders fromm, traditionell und isolatorisch geben. Es handelt sich um Satmarer Chassiden, einen so genannten Hof, der vom Rabbiner Joel Teitelbaum gegründet worden ist. Deborah Feldmans kleiner Kiez, der Stadtteil Williamsburg in Brooklyn, New York, versammelt die weltweit größte Anhängerschaft Teitelbaums - knapp zehntausend davon nämlich.
Zur Lehre des ultraorthodoxen Rabbiners und seines Erben Moshe gehört die strikte Ablehnung jedweder Modernisierung und kultureller Annäherung. Satmarer sollen unter sich bleiben, Kontakte mit anderen meiden, vor allem mit Gójim (Nichtjuden), die eigenen Traditionen akribisch pflegen, jederzeit dem Rabbi gehorchen, technisch abgenabelt bleiben und weiterhin daran glauben, dass einzig der Messias das Recht hätte, einen jüdischen Staat zu gründen. Letzteres ist aus Sicht der jungen Deborah eher uninteressant, aber die anderen Aspekte bestimmen ihr Leben ganz gehörig. Ein Leben ohne Körperlichkeit, mit strengen Kleidungs- und Verhaltensregeln, mit vielen absurden und teilweise entwürdigenden Ritualen, mit verkuppelten Ehen und ständiger Unterdrückung der Frauen und jedweder Weiblichkeit. Wenn eine Frau auf der Straße erscheint, müssen chassidische Männer den Gehsteig wechseln, verheiratete Frauen werden rasiert, mit Perücken und originellen Hüten ausgestattet, da höchstens noch der eigene Ehemann ihre Haare anschauen darf.
Als Deborah mit siebzehn den ihr zugewiesenen Eli geheiratet hat und erstmals Geschlechtsverkehr zum Zweck der Reproduktion - ihre einzige Aufgabe ab sofort - haben soll, muss sie nach einigen sehr quälenden Erlebnissen feststellen (lassen), unter Vaginismus zu leiden, einer unter solchen Frauen nicht seltenen Muskelerkrankung, die damit zu tun hat, dass die Existenz der Geschlechtsorgane vor dem Tag der Eheschließung ein Tabu darstellt, sogar verneint wird. Tatsächlich glaubt die junge Frau auch zu diesem Zeitpunkt noch, "das da unten" selbst nicht zu besitzen.
Aber sie beginnt schon vergleichsweise früh, ihr Umfeld, das gesellschaftliche Konstrukt und die über allem stehende Frömmigkeit, gar Gott selbst in Frage zu stellen. Sie besorgt sich heimlich englischsprachige Bücher, die den in ihr wachsenden Widerstand nähren, das Gefühl, nicht dazuzugehören, falsch zu sein, mindestens anders. Sie widerspricht stumm den Aussagen der Menschen, die sie umgeben, Menschen, die sie zwar weiterhin liebt, deren Weltanschauung und Lebensweise sie aber mehr und mehr in Zweifel zieht, doch erst mit der Geburt des Sohnes werden die Zweifel stärker als die Angst vor dem Verlust aller Bindungen.

"Unorthodox" ist ein autobiografischer Sektenaussteiger-Roman, aber er unterscheidet sich in zwei Aspekten stark von seinen Vorbildern. Erstens gibt es bislang wenig Material dieser Art aus der Feder ehemaliger Chassiden, vor allem aber, zweitens, nicht so gutes. Deborah Feldman ist sehr talentiert, schreibt anschaulich, bildreich, einfühlsam und durchaus respektvoll, was vor dem Hintergrund ihrer Erlebnisse eine mehr als bemerkenswerte Leistung darstellt. Sie berichtet auch von den guten Seiten der ultraorthodoxen Gemeinschaft, von der Behaglichkeit und Sicherheit, und wenn sie zu recht darüber empört ist, wie mit großer Energie ungefragt in ihre Intimsphäre eingedrungen, ihre Privatheit zerstört wird, wenn sie davon berichtet, wie Missbrauch wird vertuscht und Täter geschützt werden, dann haftet selbst dieser Schilderung noch ein gewisses Verständnis, ein Mitgefühl an. Trotzdem ist der Befreiungsschlag am Ende ein mächtiger, auf den man als (nicht nur weltlicher) Leser auch hinfiebert, denn die Existenz solcher Gemeinden ist nicht nur ein Anachronismus, sondern eine fundamentale Verneinung aller gesellschaftlichen Werte, die in den letzten Jahrhunderten formuliert wurden. Dass diese Mikrokosmen noch geduldet werden, gleich welcher Religion sie entsprungen sind, ist zwar einerseits verständlich, weil die Religionsfreiheit - und natürlich auch die Freiheit von der Religion - unbedingt verteidigt werden muss, andererseits vor dem Hintergrund dessen, was gerade nachwachsenden Generationen dort angetan wird, kaum hinzunehmen.

Ein auf leise Art sehr spektakuläres Buch, eine spannende, höchst interessante und sehr lehrreiche Lektüre, die zudem stilistisch brilliert - und großartig übersetzt ist.

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pfeil Übersicht: Tom Liehr

Landeier

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